Was Ethikunterricht und die Tribute von Panem gemeinsam haben können
Ich bin weder getauft worden noch besuchte ich irgend eine Art von Religionsunterricht. In der Schule hatten wir Ethik. „Ethik ist eine praktische Disziplin der Philosophie“ lehrte mich meine strenge Ethik-Lehrerin, Frau Schmidt. Diesen Satz werde ich nie vergessen, denn wir gingen ganze 4 Schulstunden jedes einzelne Wort dieser Definition durch. „Was ist Ethik?“, „Was ist Praxis?“, „Was ist eine Disziplin?“ und „Was ist Philosophie?“. So war mein Ethikhefter in meinem ersten Monat auf dem Gymnasium schon der dickste - und das obwohl ich kurz vorher nicht mal ansatzweise wusste, wozu Ethik überhaupt gut war.
Frau Schmidt fragte in jeder Ethik-Stunde die Fakten der letzten Stunde ab. Der Stundenbeginn war also geprägt von Angst, weil alle in der Klasse wussten, sie würde wieder jemanden zur mündlichen Leistungskontrolle dran nehmen. Frau Schmidt war unberechenbar, denn manchmal machte sie die Kontrolle erst zum Ende der Stunde oder gar mittendrin. Wer also hoffte, sie hatte vielleicht vergessen, ihr Ritual durchzuführen, irrte sich. Wenn sie Ihre Kontrolle ankündigte, schaffte sie es, mich binnen von Sekunden von einem entspannten Zustand in einen Stressmoment zu versetzen.
Ich hatte irgendwann raus, dass die Wahrscheinlichkeit einer mündlichen Kontrolle geringer war, wenn ich genau vor ihrem Pult, in der ersten Reihe, saß. Irgendwie fühlte ich ihren Respekt, der mir zuteil wurde, wenn ich mich genau vor die strenge Lehrerin - sie - zu setzen wagte und mich somit der Gefahr auszusetzen, für ein Schuljahr ständig in ihrem Blickfeld zu sein.
Später, in der Oberstufe, meldete ich mich zu Beginn jedes Schuljahres, wenn der Stoff noch überschaubar war, freiwillig, denn dann wusste ich, ich würde erst einmal für weitere 6 Monate verschont bleiben und müsste nicht mich nicht jede Stunde, wenn sie mit dem Finger über die Namen im Klassenbuch glitt, der Tribute-von-Panem-Zeremonie aussetzen. Außerdem wurde mein Mut stets belohnt. Frau Schmidt konnte es nicht mit sich vereinbaren, einem Schüler, der sich freiwillig einer Kontrolle unterziehen ließ, eine schlechtere Note als einer 3 zu geben – selbst wenn der Unterrichtsstoff nur hingestottert wurde. Mein Mut wurde also stets belohnt.
In meiner Wahrnehmung stellte Frau Schmidt den „Freiwilligen“ weniger fiese Fragen als denjenigen, die sich drückten. Am meisten bestrafte sie die, die sich hinten zu verstecken versuchten und auch noch respektlos und frech rüberkamen. Da nahm das Verhör manchmal kein Ende und sie kramte auch nach zahlreichen beschämenden Minuten noch fiesere Fragen aus ihrem Repertoire. Es kam nicht selten vor, dass sie Fünfen oder Sechsen verteilte - ihre Art der Strafe für schlechte Vorbereitung und wenig Disziplin.
Dass Frau Schmidt die Sitten ihres Unterrichtsfachs einfach nur lebte und mittels ihres Verhaltens versuchte, uns Moral zu lehren, begriff ich erst viel später. Sie wollte, dass wir ihr Fach respektieren und nicht als etwas abtun, dass wir nur gewählt haben, weil Religionsunterricht noch öder ist.
Ich verstehe heute, dass es durchaus Sinn ergibt, mutig zu sein und seiner Angst ins Auge zu blicken. Wir haben mehr Angst vor der Vorstellung von etwas als vor der eigentlichen Sache. Dadurch, dass wir uns selbst hypnotisieren, indem wir uns in unserem Kopf immer wieder sehen, wie wir bei der vermeintlich schlimmen Sache scheitern, planen wir Probleme. Ein Ziel entsteht als Vision und auch ein geplantes Problem kann somit zum Ziel werden. Angst ist eine subjektive Vision von einer Situation, die noch nicht eingetreten ist. Hinzu kommt, dass sie uns lähmt und dazu bringt, der beängstigenden Situationen aus dem Weg zu gehen. In vielen Situationen können wir unsere Angst besiegen, indem wir sie konfrontieren. Im Falle von Frau Schmidt wurde mir Respekt zuteil und ich erhielt sogar Anerkennung für meinen Mut. Sicher wird das nicht die einzige Situation sein, in der Angst kontraproduktiv ist und Selbstbestimmung förderlich.
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